Ein Beitrag von Jörg Wichmann
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Wenn wir zur Heilung von Patienten beitragen wollen, die unter krank-machenden Umständen leben müssen, dann haben wir uns als HomöopathInnen auch an der Heilung des Gesamtsystems zu beteiligen. Wir können und sollten unsere vielfältige Erfahrung in der Bewältigung von Krisen auch in einem größeren Kontext einbringen. Denn die Homöopathie kann in vieler Hinsicht als Modell für eine nachhaltige Heilkunst dienen. Uns selbst als Teil einer globalen Gemeinschaft von Menschen zu verstehen, die an einem Wandel arbeiten, wird auch dazu führen, daß wir selbst anders wahrgenommen werden.
Als HomöopathInnen arbeiten wir täglich mit Krisen, mit individuellen Krisen oder denen von Paaren und Familien und konzentrieren uns dabei auf ihre Gesundheit und ihre Beziehungen. Aber haben wir auch etwas zu der umfassenden Krise zu sagen, in der unsere Kultur und die globale Welt stecken? Etwas als HomöopathInnen zu sagen? Und gehört es zu unserer Rolle und unserer Arbeit, dies zu tun? – Ja, gewiß haben wir das und unbedingt gehört es dazu.
Zu diesem Thema stellen sich mir drei grundlegende Fragen: 1) Gibt es einen größeren Zusammenhang für die Homöopathie, und inwiefern betrifft das unsere Art zu heilen? 2) Was bedeutet die Wahrnehmung dieser Krise für die öffentliche Rolle der Homöopathie? 3) Wie können wir als HomöopathInnen einen Beitrag zur Heilung der globalen Krise leisten und wie kann dieser konkret aussehen?
1 – Gibt es einen größeren Zusammenhang für die Homöopathie, und inwiefern betrifft das unsere Art zu heilen?
Bei Grundfragen zur Homöopathie sind wir es gewohnt, einen Blick auf unseren Ausgangspunkt zu werfen. Deshalb frage ich nach der Rolle, die bei der Begründung unserer Kunst vorgesehen wurde, und da steht: § 1 – Des Arztes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt.
Angesichts dieses Satzes ergibt sich zunächst die Frage, was Hahnemann mit Gesundheit gemeint hat. Bedeutet „gesund“, daß wir wieder besser als ein Zahnrad der großen Maschine funktionieren können und wieder zuverlässige Arbeiter im Dienste von anderen sind? Ist es unser Ansinnen, unsere Patienten auf eine bessere Funktion und Verfügbarkeit hin zu reparieren? „Höchster und einziger Beruf“ ist ein großes Wort, an dessen Seite Hahnemann an anderer Stelle (§9) den Satz stellt, „daß unser inwohnende, vernünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höhern Zwecke unsers Daseins bedienen kann“. Eine solche Mission zu haben, die dem höheren Zweck unseres Daseins dienen soll, weist auf eine große Aufgabe hin, die alle unsere Kräfte und unseren vollen Einsatz verlangt. „Kranke Menschen gesund zu machen“, heißt also auch, daß wir dazu beitragen, die Erde zu einem Ort zu machen, an welchem Gesundheit überhaupt bestehen kann. In einer wahnsinnig gewordenen Welt Menschen gesund machen zu wollen, ist wie eine Kerze unter Wasser entzünden zu wollen.
Wie die Allopathen konzentrieren wir uns ganz auf die Behandlung der Beschwerden einzelner Menschen. Wir sprechen zwar von ganzheitlicher Behandlung, aber die Ganzheit, auf die wir blicken, ist nur ein Individuum. Dabei ist es eindeutig unser „Beruf“, unsere Berufung, mehr zu tun und dafür zu sorgen, daß wir selbst und unsere Patienten verstehen, was Gesundheit wirklich bedeutet. So wenig wie Frieden allein darin besteht, daß die konkreten Kampfhandlungen unterbrochen werden, so wenig besteht Gesundheit darin, daß die unmittelbaren Beschwerden aufhören – so angenehm und wichtig das im Einzelfall auch sein mag. Denn so wenig wir den Magen eines insgesamt kranken Menschen allein heilen können, so wenig können wir einen einzelnen Menschen heilen, der Teil einer kranken Gesellschaft ist. Um es abstrakter zu formulieren: Gesundheit ist ein Systembegriff. Es gibt keine Gesundheit eines Einzelteiles, wenn das Ganze krank ist – das ist ein trivialer Gedanke, und wir neigen dazu zu denken: Das wissen wir doch alles, warum erzählt er uns das? Ich erwähne es noch einmal, weil wir das alles nur auf einer sehr theoretischen Ebene „wissen“, es aber praktisch nicht beherzigen und keine Rückschlüsse daraus ziehen oder uns danach verhalten. Wissen, das nichts verändert, ist nutzlos.
Der Begriff Homöopathie selbst weist bereits auf den Kern dessen hin, worum es mir geht: Ähnliches mit Ähnlichem zu heilen – wir sind Teil von und dem ähnlich, womit wir heilen. Wir arbeiten mit Substanzen dieser Erde – mit Salzen und Kristallen, Blumen und Baumrinde, Tiermilch und Federn – und indem wir das tun, schaffen wir stärkere Bande zu unserem Planeten und anerkennen, daß wir im Grunde identisch sind. Wir und das Ganze, Menschen und Erde. Die Spaltung existiert nur in der Verwirrung unseres Geistes; und indem wir homöopathisch arbeiten, machen wir einen ersten Schritt zu seiner Heilung. Wir können auch, um uns dies aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen, über den modernen Begriff der Nachhaltigkeit reden, der in vielen Wissenschaften ein Schlüsselbegriff geworden ist, und das aus gutem Grund. So können wir uns fragen, ob Homöopathie eine nachhaltige Heilmethode sei? Wenn wir uns den äußerst sparsamen Verbrauch an Ressourcen anschauen (noch weniger als C 10.000 geht ja wohl kaum, haha), dann ist das sicherlich der Fall. Aber ist die Homöopathie auch nachhaltig im Sinne von Hahnemanns „dauerhafter Wiederherstellung der Gesundheit“ (§2)? Wie können unsere Heilungen dauerhaft sein, wenn wir unsere Patienten anschließend in die gleichen Umstände zurückschicken, die sie überhaupt krank gemacht haben? Eine nachhaltige Heilmethode – oder, mit Hahnemanns Worten, eine, die auf dauerhafte Wiederherstellung der Gesundheit abzielt – muß sich auch den größeren Kontext anschauen und in Rechnung stellen.
§ 4 – Er ist zugleich ein Gesundheit-Erhalter, wenn er die Gesundheit störenden und Krankheit erzeugenden und unterhaltenden Dinge kennt und sie von den gesunden Menschen zu entfernen weiß.
Wenn wir diesen weiteren Paragraphen aus dem Organon als HomöopathInnen, Ärztinnen, Therapeuten oder HeilerInnen wirklich ernst nehmen, dann sind wir offenbar nicht nur berufen, die Symptome und Personen gesund zu machen, sondern „die Gesundheit störenden und Krankheit erzeugenden und unterhaltenden Dinge“ zu kennen und zu beseitigen. Das ist in der Tat eine gewaltige Aufgabe; man könnte sagen, DIE Aufgabe unserer Zeit, und ganz sicher viel zu groß für einzelne. Deshalb sind wir auch berufen, als eine Gemeinschaft daran teilzunehmen und uns den vielen anzuschließen, die bereits daran arbeiten. Nur dann können wir uns mit Recht als „Gesundheit-Erhalter“ bezeichnen. Und Achtung: Hahnemann spricht hier ausdrücklich nicht von den Kranken wie in §1, sondern von „gesunden Menschen“, denen gegenüber die Homöopathen diesen Dienst zu erbringen haben. Wir sollen also dafür sorgen, daß die Menschen in einem gesunden Zustand bleiben können, bevor eine Krankheit überhaupt ins Spiel kommt. Die verschmutzte Luft, die wir atmen, das Plastik, das wir ständig mit der Nahrung aufnehmen, die Zerstörung, die wir ständig sehen müssen, das Leiden der zahllosen Lebewesen, das unser Unterbewußtsein permanent wahrnimmt, sind sicherlich viel größere „Heilungshindernisse“ als Kaffee oder die falsche Zahncreme. Um gute HomöopathInnen, gute HeilerInnen zu sein, müssen wir den ganzen Kontext sehen und unsere Verantwortung darin übernehmen: das ganze System gesund zu machen und zu erhalten.
2 – Was bedeutet die Wahrnehmung dieser Krise für die öffentliche Rolle der Homöopathie?
Beim Thema Krise können wir auch einen Blick auf die Krise werfen, in welcher sich die Homöopathie selbst gerade befindet. Nach einem großen Boom aller alternativen Lebens- und Heilweisen in den 80er- und 90er-Jahren erleben wir gerade einen allgemeinen Rückgang und zusätzlich eine besondere Feindseligkeit gegenüber der Homöopathie.
Als immer mehr Kritik (oder besser Pseudo-Kritik) an der Homöopathie laut wurde, reagierten viele Kollegen zunächst mit: Wir müssen besser arbeiten, wir müssen unsere Methode genauer befolgen, wir müssen mehr geheilte Fälle publizieren, wir müssen alle mit einer Stimme sprechen, wir müssen mehr wissenschaftliche Nachweise erbringen, usw. – Der Punkt ist nur: Selbst wenn wir das schaffen würden, ja, selbst wenn wir alles davon schaffen würden, würden es die Gegner der Homöopathie nicht einmal bemerken. Sie wären auch gar nicht daran interessiert, weil sie an einer echten Diskussion auf Augenhöhe sowieso nicht interessiert sind oder an einem gegenseitigen Verständnis der jeweiligen Argumente. Zum tatsächlichen Hintergrund: In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ging es der materialistischen Weltanschauung ziemlich gut, die Technik entwickelte sich rasch, die letzten weißen Flecken des Planeten wurden der industriellen Nutzung und Ausbeutung unterworfen, Öl und Minerale gab es noch in Fülle, die Wirtschaft blühte überwiegend, und nur die gut Informierten wußten um die näher rückenden Katastrophen. In einer solchen Atmosphäre konnte es sich das materialistische Establishment bequem leisten, einen kleinen Haufen Spinner zu ertragen, die von Ganzheitlichkeit und alternativem Leben redeten, von Love not War, und die esoterische Heilkünste wie die chinesische Medizin, Schamanismus oder Homöopathie bevorzugten. Je deutlicher es aber wurde, daß die gängige Art mit unserem Planeten und mit den menschlichen Gemeinschaften umzugehen, zu einer globalen Krise führen würde, um so intoleranter wurde das System. Jetzt stehen wir nach einer langen liberalen Phase einem massiven ideologischen Rollback gegenüber, und wir als HomöopathInnen leiden unter den gleichen Rückschlägen wie alle anderen alternativen Bereiche auch. Ganz offensichtlich geht es nicht darum, daß die Homöopathie ihre Qualität nicht beweisen kann. Vielmehr geht es darum, daß sie vom Establishment als gefährlich ausgemacht worden ist, sowohl in philosophischer wie auch – viel schlimmer – in wirtschaftlicher Hinsicht. Was glauben Sie wohl, würde passieren, wenn das medizinische Establishment zugäbe, daß es eine medizinische Alternative gibt, die sehr effektiv ist und sehr billig und die überall auf der Welt leicht zu praktizieren ist und auf einem ganz anderen Verständnis von Krankheit und Gesundheit beruht? Glauben Sie wirklich, das würde jemals zugegeben oder auch nur angedeutet werden?
Wenn Du merkst, daß Du auf einem toten Pferd reitest, STEIG AB! (Sprichwort der Dakota)
Wenn also all unsere bisherigen Bemühungen um Anerkennung uns nicht dahin gebracht haben, wohin wir wollten, dann geht es nicht darum, uns noch mehr zu bemühen, sondern darum zu begreifen, daß wir uns in die falsche Richtung bewegt haben. Wenn wir uns unsere übermächtigen Gegner anschauen, die selbsternannten Wächter des szientistischen* Dogmas, die Pharma-Konzerne und die Gesundheitspolitik, dann sollten wir uns nicht fragen, was wir falsch gemacht haben, um deren Animosität zu provozieren, sondern wir sollten sehen, daß wir etwas sehr Wesentliches richtig gemacht haben müssen. Sich die Feindschaft derer zu verdienen, die unsere Gesundheit ruinieren, die unseren Planeten vergiften und Profit über Solidarität stellen, ist ein gutes Zeichen, daß wir für die gegenteiligen Werte stehen und auch so wahrgenommen werden. Das bedeutet schlicht und einfach, daß unsere Bemühungen, von der Schulmedizin anerkannt zu werden, zum Gegenteil dessen führen werden, was wir erreichen wollen: Je besser wir die Qualität der Homöopathie beweisen können, um so vehementer wird man uns bekämpfen, weil unsere Weltsicht den vorherrschenden Mächten genau zuwider läuft. Eher sollte es uns darum gehen, mit denjenigen zu sprechen, die uns gern zuhören, und uns an die breite Öffentlichkeit richten, die uns zu einem erheblichen Teil noch gewogen ist. Und wenn sich herausstellt, daß die Massenmedien zu stark von Materialisten beeinflußt oder gar in ihrem Besitz sind, um in fairer Weise über unsere Anliegen zu berichten, dann können wir immer noch die sozialen Medien benutzen und lernen, dies auf klügere und wirksamere Art und Weise zu tun.
- Der Begriff “Szientismus /szientistisch” (im Gegensatz zu wissenschaftlich) bezeichnet einen Mißbrauch der Wissenschaft als Dogma, um persönliche Meinungen als unumstößliche Fakten darzustellen (siehe auch meine Bemerkungen in >Gedanken über „Skeptiker“ als erklärte Homöopathie-Gegner<). Es ist wichtig zu verstehen, daß es hier nicht um Wissenschaft sondern um eine fundamentalistische Ideologie geht, die Versatzstücke vorgestriger wissenschaftlicher Erkenntnisse und Vorstellungen als Dogma verwendet. Wissenschaft ist immer offen und beginnt mit unvoreingenommener Beobachtung. Auf lange Sicht werden wir uns als Vorreiter einer wachsenden und umfassenderen Sicht der Welt und der Gesundheit erweisen. Nicht die moderne Wissenschaft ist gegen uns, sondern nur ein dogmatisches und szientistisches1 Mißverständnis derselben. Die Wissenschaft ist unsere Freundin. Klares Denken und die Errungenschaften der Aufklärung sind die Grundlage unserer Arbeit. Wir können uns entspannen und darauf vertrauen, daß sich die Wahrheit auf die Dauer immer durchsetzen wird.
3 – Wie können wir als HomöopathInnen einen Beitrag zur Heilung der globalen Krise leisten und wie kann dieser konkret aussehen? Gestern standen wir noch am Rande des Abgrundes. Heute sind wir schon einen Schritt weiter.
Im 20. Jahrhundert lebten wir lange mit der Metapher, es sei fünf vor Zwölf, was die Umweltsituation angeht. Jetzt, im 21. Jahrhundert ist es schon nach Zwölf. Wir sind bereits zu weit gegangen, und wir wissen, daß die Folgen unserer vergangenen Entscheidungen uns einholen werden, ganz gleich, was wir jetzt tun oder lassen. Wir können allenfalls die Folgen lindern oder verschlimmern. Der Klimawandel ist bereits in vollem Gange, das Öl und andere Ressourcen werden schon knapp, Wasser wird sich in Kürze als eines der größten Probleme erweisen, und wir sehen eine Wirtschaftskrise auf uns zukommen, gegen die die letzte von 2008 nur ein kleines Vorspiel gewesen ist.
Wie würde eine “Behandlung” der Weltprobleme nach homöopathischen Prinzipien aussehen? Was können wir aus unseren Erfahrungen mit Individuen im Hinblick auf die Lösung der aktuellen Krisen lernen? Die Prinzipien müssen die gleichen sein, denn was wir in der Homöopathie anwenden, ist nur ein Spiegel der Gesetze, nach denen auch sonst die Welt funktioniert. Wie also können wir eine Welt in der Krise „behandeln“? Natürlich habe ich keine Antwort auf diese Frage, aber ich halte es für unsere Verantwortung, mit dem Stellen dieser Frage zu beginnen: Worin kann unsere aktive Rolle in diesem Prozess bestehen? Eines ist klar zu erkennen: Es liegt nicht auf dem homöopathischen Weg zu bekämpfen, was wir nicht wollen, sondern das zu repräsentieren, was wir verbreiten wollen und zugleich den kranken Zustand in der Form/Metapher/Vorstellung/Wesenhaftigkeit eines Arzneimittels zu spiegeln. Die Existenz der Homöopathie an sich ist schon ein Modell dafür, wie eine Lösung der globalen Probleme aussehen könnte. Und im medizinischen Bereich ist es nicht nur eine Metapher, sondern ein tatsächlicher Teil der Lösung. Zusammen mit einigen Errungenschaften der modernen Medizin wird die Homöopathie eine wesentliche Rolle in einer zukünftigen Medizin zu spielen haben, ebenso wie die Ansätze anderer Kulturen.
Homöopathie ist eine ideale Therapieform für eine andere, nachhaltige, solidarische globale Kultur, denn sie ist: • nachhaltig, weil sie nur minimale physische Ressourcen braucht • dezentral, weil jede/r die Mittel überall herstellen und prüfen kann • billig, weil die Arzneimittel extrem wenig kosten und nur menschlicher Einsatz erforderlich ist, sie einzusetzen • global, weil ihre Prinzipien von allen in allen Kulturen verstanden werden können • nicht-linear und offen in ihrer Herangehensweise, weil sie alle Facetten des menschlichen Geistes einbezieht • holistisch, weil sie das ganze menschliche Wesen und seine Lebensbedingungen im Blick hat • wissenschaftlich, weil sie auf Erfahrung und klaren Prinzipien basiert • friedlich, weil sie nicht den Krankheiten den Krieg erklärt, sondern als angewandtes Mitgefühl mit dem Prozeß mitgeht (homoeo) • stärkend, weil sie die Selbstheilungskräfte des Organismus unterstützt und anregt • unabhängig, weil man zu ihrer Anwendung keine Technik, keine Labors und kein Geld braucht • natürlich, weil sie überwiegend Stoffe aus der Natur verwendet • spirituell, weil sie auf zeitlosen geistigen Gesetzen beruht • einfach, weil ihre Prinzipien von jedem Menschen mit offenem Geist verstanden werden können • post-modern, weil sie offen ist für eine vielschichtige und pluralistische Weltsicht
Wir brauchen diese Vorzüge nur zu verbreiten anstatt die Effektivität unserer Methode unter Bedingungen zu "beweisen", die nicht nur für einen Nachweis homöopathischer Wirkungen ungeeignet sind, sondern auch für jede realistische Heilungs-Situation außerhalb eines Labors. Und wir sollten diese Vorzüge all denen nahebringen, die daran interessiert und bereit sind zuzuhören, deren Geist offen ist und deren Weltbild zu unserem paßt und die sehen können, wohin wir gehen. Und wir sollten diese Eigenschaften und unsere Prinzipien nicht nur als eine Heilmethode für menschliche Individuen herausstellen sondern als ein Modell für einen anderen, gesunden und praktikablen Zugang zur Welt.
Welche praktische Bedeutung können diese Überlegungen haben? 1: Als HomöopathInnen verfügen wir über einen riesigen Erfahrungsschatz im ganzheitlichen und wirksamen Umgang mit Krisen. Auf jeden Fall können wir bezeugen, daß jede Krise auch eine Chance und oftmals die bestmögliche Chance für eine Veränderung sein kann. Wir könnten also kreativ werden und unsere Strategien im Umgang mit Krisen auf politische Verhältnisse anwenden und Lösungen finden, wo keine sichtbar scheinen. Wir haben das Wissen und die Erfahrung, daß ein Problem nur eine auf den Kopf gestellte Lösung ist.
2: Da wir uns gewöhnlich nicht in der Lage befinden, die Lebensumstände unserer PatientInnen zu verändern – ihre entfremdete Arbeit, ihre dysfunktionalen Familien, die diskriminierende Gesellschaft oder eine lebensfeindliche Umwelt –, können wir sie wenigstens auf diese Faktoren aufmerksam machen. Wir können sie von der Vorstellung befreien, ihre Erkrankung sei ihr eigener Fehler und sie müßten sich nur etwas mehr anstrengen, um gesund zu werden, oder die bessere Heilmethode finden oder die stärkere Pille schlucken. Die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, bildet immer einen ersten wichtigen Schritt zu mehr Gesundheit.
3: Um mit unserem Anliegen glaubhaft zu wirken, müssen wir auch selbst Konsequenzen ziehen und unser Leben anders einrichten. Ich kenne so viele KollegInnen, die rund um die Uhr in ihrer Praxis arbeiten und noch Sonntag nachts um zwei eine Email sofort beantworten, die selbst bis auf die Knochen ausgebrannt sind, die sich keine Zeit für Spaziergänge, Sport, die Familie oder für Kreativität nehmen, weil sie noch „Fälle lösen“ müssen – alle Fälle, außer ihrem eigenen. Wie glaubwürdig wirkt es, dann über ganzheitliche Gesundheit zu reden?
4: Wir sollten uns als Teil eines großen und vielgestaltigen Netzwerks und einer Gemeinschaft sehen, die am Aufbau einer anderen Gesellschaft arbeitet. Als MedizinerInnen befinden wir uns in einer sehr privilegierten Position und haben großen Anteil am Reichtum dieser Gesellschaft. Davon sollten wir uns aber nicht verführen lassen zu glauben, daß wir unseren „höchsten Beruf“ ausüben und gleichzeitig von diesen Privilegien profitieren können. Unser eigentlicher Platz ist in der Gegenkultur, bei den alternativen Netzwerken, die für einen gesünderen Planeten und eine vernünftige, gerechte und menschliche Gesellschaft arbeiten, lieben, kämpfen, heilen, diskutieren, denken und schreiben.
5: Um das System wieder gesund zu machen, brauchen wir keine Anerkennung seitens einer entfremdeten Sicht der Welt und der Medizin. Und es hilft uns auch nicht, uns in die Defensive drängen zu lassen, uns oder unsere Heilungserfolge oder unsere Wissenschaftlichkeit zu rechtfertigen. Die Homöopathie kann viele Bedürfnisse einer modernen und globalen Medizin erfüllen und paßt zu der Art, wie wir über Gesundheit, Schmerz, Krankheit und Tod denken müssen, wenn die Menschheit diese Krise überleben möchte. Wir wären gut beraten, dies alles aktiv zu verbreiten und dafür Verbündete dort zu suchen, wo wir sie auch finden können. Und das ist eher nicht in der privilegierten Schulmedizin, sondern in den vielen Gruppen und Netzwerken der Fall, die ebenfalls um die Gesundheit des Planeten und der Gesundheit bemüht sind. Was uns also helfen wird, ist nicht, weniger homöopathisch zu sein und uns an die gängigen Denkschemata anzupassen und „komplementär“ zu ihnen zu werden, sondern in allen Lebensbereichen mehr homöopathisch zu werden.
6: So wie unsere PatientInnen Teil eines größeren Ganzen sind, so ist auch unsere Kunst und Wissenschaft der Homöopathie Teil einer größeren Bewegung; und war dies von Anfang an, wenn wir uns die Biografie ihres Begründers* anschauen. An dieser größeren Bewegung für eine alternative und nachhaltigere Lebensweise, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik aktiv teilzunehmen, macht uns zu einem Teil eines riesigen Netzwerks von Menschen, die unsere Dienste brauchen und wünschen. Während wir den Boden bereiten, auf dem auch die Homöopathie weiter gedeihen kann, werden wir auch für die vielen sichtbar, die unsere medizinische Hilfe brauchen können und uns vertrauen würden.
- Hahnemann war nicht nur Arzt, sondern engagierte sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Er war Freimaurer, wo in seiner Zeit der wichtigste Schnittpunkt der Philosophie der Aufklärung und der hermetischen Spiritualität lag. Er versuchte neue und kreative und vor allem menschenwürdigere Behandlungsmethoden für geistig verwirrte Menschen zu entwickeln, was für seine Epoche bahnbrechend war. Er riskierte immer wieder seinen Ruf und seine wirtschaftliche Existenz, um für das einzustehen, was er als die Wahrheit und als seine Rechte ansah, zB Arzneimittel selbst herzustellen. Er arbeitete außer mit homöopathischen Mitteln auch mit Mesmerismus, was in seiner Zeit als neue und fortschrittliche aber umstrittene Methode galt.
7: Als ÄrztInnen, TherapeutInnen und HeilerInnen befinden wir uns in einer besonderen Lage, weil wir etwas zu geben haben: Wir tragen bei zur Wiederherstellung der Gesundheit, zur Linderung von Schmerzen und zum Abbau von Stress. Deshalb werden unsere PatientInnen uns zuhören, wenn wir ihnen bewußt machen, daß unser Angebot nur ein kleiner Teil eines umfassenden Heilungsprozesses sein kann, auf den sie sich einlassen müssen und daß die Große Heilung nur eine globale sein kann. Wir finden bei vielen Menschen Gehör, die sich ansonsten nur wenig für die Stimme der globalen Gemeinschaft interessieren würden. Laßt uns dieses Privileg verantwortungsvoll nutzen.
8: Einige gute Beispiele dafür, was HomöopathInnen in diesem Zusammenhang tun können und bereits tun: ◦ HoG, Homöopathie ohne Grenzen, (www.hom-og.de/) ◦ Jeremy Sherrs Arbeit in Afrika (http://homeopathyforhealthinafrica.org/) ◦ Harry van der Zee’s und Peter Chappell’s Arbeit mit Epidemien in Afrika (Amma Resonance Healing Foundation, www.arhf.nl/en/home/) ◦ HWB, Homeopathy Without Borders, (www.hwbna.org/)
Die Zukunft der Homöopathie wird davon abhängen, ob unser homöopathisches Wirken, unser homoios-pathein, unser Mit-Gefühl, auf die ganze lebendige Welt ausgedehnt werden kann und damit zu dem wird, als was sie von Anfang an gedacht war.
Wie alle anderen ganzheitlichen Therapie-Methoden, die in der schamanischen oder hermetischen Tradition wurzeln, bezieht sich die Homöopathie auf alle Aspekte, die sie zu einer ganzheitlichen Arbeit und zu einer Arbeit am Ganzen machen, damit sich „unser inwohnende, vernünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höhern Zwecke unsers Daseins bedienen kann.“ (§9).
Dieser Artikel ist in ähnlicher Form in englischer Sprache im Heft 1/2018 der Homoeopathic Links erschienen.
In meinem Blog „Homöopathie und die Welt“ behandele ich die hier angesprochenen Themen in lockerer Folge anhand aktueller Aufhänger.
Jörg Wichmann